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Big Picture, Alter! – Oder: Wenn das Problem nicht das Problem ist.

Neulich auf dem Flur eines Kunden: «Du, Felix, ich hab hier ein Formular und das versteht keiner. Jetzt will ich hier ein Info-Icon platzieren. Wo soll ich das deiner Meinung nach platzieren?» – Die schnelle Frage, verlangt nach einer schnellen Antwort, die aber ausbleibt. Ich gehe einen Schritt nach hinten und halte kurz inne… Warum braucht es ein Info-Icon? Weshalb genau versteht keiner das Formular? Und was steckt überhaupt hinter dem Problem? Und wie kann das Formular verbessert werden, damit man vielleicht keine Info-Icons benötigt? Als ich aber merke, dass sich scheinbar bis jetzt niemand anderes Gedanken über diese Fragen gemacht hat, läuft es mir wieder kalt den Rücken herunter: hier hat sich mal wieder niemand den Gesamtkontext angeschaut: BIG PICTURE, ALTER!

Engagement ist toll – Macher unterscheiden sich aber von Aktionisten

Eine neue Gelegenheit, wieder auf dem Gang: «Wir brauchen für das neue Feature unserer App noch einen UX-ler, der uns das konzipiert und testet!». Kein Problem, denke ich mir im ersten Moment. Dann überlege ich mir: Welchen Mehrwert bietet das neue Feature? Passt dieses Feature zum Business-Ziel und der Vision der App? Ich frage nach: Was ist denn das Ziel der App? Welche Vision habt ihr? Darauf bekomme ich eine schwammige Antwort: «Äh, also wir glauben, dass das Feature gut bei unserer Zielgruppe ankommt!» Neben dem Fakt, dass die sogenannte Zielgruppe das Ergebnis aus einer spärlich ausgefüllten Empathy-Map-Vorlage aus dem Netz stammt, deren Inhalte sich der CEO und CTO ausgedacht hatten, haben sich die zwei zwar unbewusst Gedanken über die Vision gemacht, diese aber nie niedergeschrieben. Folglich gibt es weder Klarheit noch Committment zum Inhalt der App.

Wieder der eiskalte Schauer… Denkt denn niemand an das grosse Ganze? Ich kann doch nicht nur einen kleinen Touchpoint aus dem riesigen Konglomerat betrachten und dabei das Big Picture vernachlässigen. Spricht das Feature überhaupt die Primärpersona an? Hat man die Zielgruppe schon einmal untersucht, ob ihnen das neue Feature überhaupt Nutzen bringt? Wieso optimiert man die App nicht konsequent an einigen Stellschrauben, anstatt beliebig irgendwo in Featuritis zu verfallen? Und woher kommt dieser gottverdammte Aktionismus? An diesem Punkt wollen Abkürzungen genommen werden, die sich später einfach rächen.

Das bedeutet nicht, dass ich es für schlecht halte, wenn CEOs eigene Ideen ins Projekt tragen. Dennoch ist fehlende Grundlagenforschung gepaart mit Aktionismus ein gefährlicher Cocktail in jedem Projekt. Der fehlende Fahrplan in einem Projekt ist die Garantie zum Scheitern. Ohne, dass man Grundsteine legt und sich diese immer wieder vor Augen führt, was leider häufig in der Praxis versucht wird (eine gewisse Zeit lang geht das auch gut), werden massiv Ressourcen verschwendet, welche mit etwas Reflexion und Abstand auf das Thema gespart werden könnten.

Macher haben einen Plan und eine Vision und verfolgen beides konsequent

Auf der Ebene des einzelnen Menschen können wir für die Lösung des Knotens im Kopf der Aktionisten Suzanne Grieger-Langer (Wirtschafts-Profilerin) zu Wort kommen lassen: am Markt brauche man keine «Hochschulkompetenz», sondern vielmehr «Strassenkompetenz», die darin besteht, eine Klarheit zu entwickeln, zu wissen wo hin man will und wie man das erreichen möchte, bzw. sich und die Sache an sich zu hinterfragen, warum man das überhaupt tun möchte. Neben der Klarheit benötigt es nach Grieger-Langer noch Konsequenz, etwas durchzuziehen. Das bedeutet nicht, dass die jeweiligen Beteiligten innerhalb eines Projekts nicht kompetent wären – im Gegenteil. Allerdings fehlt eben oft diese genannte Klarheit und Konsequenz, etwas auf den Punkt zu bringen, und nicht «herum zu eiern». Der Einzelne sollte sich in der Eigenverantwortung sehen, zu reflektieren und gegen das zu vergleichen, was mal Vision und Plan waren.

Auf Projektebene gelten im Grunde die gleichen Regeln. Plan, Vision und Planverfolgung sind so viel einfacher und sinniger zu gestalten, wenn die Menschen im Projekt die selbe Einstellung teilen. Am Anfang ist das mit «solchen Leuten» schwieriger – die hinterfragen alles – aber die Lösung, das Ergebnis wird bald für sich sprechen. Und meiner Erfahrung nach ist man dann auch schneller. Das tönt erstmal sehr aufwändig, aber auch in einem solchen Denken bekommt man Routine.

Ein guter Plan setzt die richtigen Methoden ein und kleidet sich nicht mit Buzz-Words

Ein Design-Thinking an einem Tag, eine Customer Journey ohne Kundeneinbezug, ein einzelner Workshop als Fokusgruppe bezeichnet – puh! Ein Problem liegt vielleicht auch in der Ursache, dass viele solche Begriffe aufschnappen, ohne zu wissen was dahintersteckt. Allerdings merke ich schon oft bei der Erstellung einer Offerte, dass das beschriebene Problem, z.B. «Wir möchten wissen, wie unsere Kunden vorgehen», gar nicht die erste Frage ist, sondern mit grosser Sicherheit unklar ist, wer dieser ominöse Kunde überhaupt ist. Wenn wir evux-ler also in einem Projekt beauftragt sind oder damit beauftragt werden könnten, die Customer und User Experience zu optimieren, dann müssen Sie sich nicht wundern, wenn wir anfangen, gegebene Umstände zu hinterfragen und das Projektvorgehen als solches in Frage stellen. In erster Linie ist es die Orientierung, die ich in jedem Projekt suche – Wo wollen wir hin? Warum tun wir das überhaupt? Für wen tun wir das? Verbessert es die Welt (oder zumindest den Alltag des Nutzers)? Und wie wollen wir das zusammen tun?

Der Einzelne bleibt auch beim besten Plan gefragt

Wie schon erwähnt hilft es mir, den Schritt nach hinten zu machen und die Fakten zu hinterfragen. Leider wird es innerhalb eines Projekts immer wieder vernachlässigt, von Projektanfang bis -ende eine Vision zu verfolgen bzw. sich stets Gedanken darüber zu machen, wie eine Idee, ein Feature, ein Icon, whatever ins Gesamtbild der Anwendung passt bzw. wie man eine Anwendung tatsächlich optimieren und den Bedürfnissen der Zielgruppe entgegenkommen kann. Vielleicht aber unterscheidet genau dieser Punkt einen Aktionisten von einem Macher.

 

[Ursprünglicher Artikel von Felix Schüfer]

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