zurück zur Übersicht

Mehr bessere Ideen im Unternehmen

Kreativitätstechniken sind in aller Munde. Die meisten von uns finden diese Methoden auch ziemlich cool. Nehmen wir Brainstormings als bekanntestes Beispiel oder Design Studios, die ein visuelles Brainstorming beinhalten. Wir dürfen ungezwungen abstrahiert von unseren gewöhnlichen Zwängen Gas geben und einfach munter drauf los sprudeln. Das Ergebnis: etwa 100 Ideen, von denen 80 direkt aussortiert werden können, 10, die keiner mehr versteht und die letzten 10 finden wir zwar gut, aber auf die wären wir auch ohne den Zinnober mit dem sogenannten Kreativworkshop gekommen. Schade, gell?

Ideen brauchen Freiraum, Ideen brauchen aber auch Impulse.

Wenn du dir die Frage stellst, wie du eine Customer- oder User Experience Lösung konzipierst, dann hilft es dich wieder einmal mit Kreativitätstechniken zu befassen. Denn deren Effektivität wird aus meiner Sicht häufig zu wenig betrachtet und reflektiert. Je grösser der erwartete Input einer Idee, desto weniger hilft die reine Quantität von Ideen (Briggs 1997). Essenziell für qualitativ hochwertigere Ideen ist der Perspektivenwechsel. Dieser ermöglicht es einer Person, Wissensstrukturen zu aktivieren, die «abwegiger» sind. Wir können Verknüpfungen erstellen, die wir ohne den systematischen Perspektivenwechsel gar nicht hätten herstellen können.

Ein Perspektivenwechsel lässt sich durch drei Typen erreichen: Analogie, Zufall und Provokation (Knoll und Horton 2010). Alle 3 «Kreativ-Add-ons» helfen dabei, auf Dinge zu kommen, die wir vorher noch nicht wussten. Ein herkömmliches Brainstorming enthält aber nichts davon. Deshalb ist es oft auch wenig effektiv. Was du hier aber besonders schnell merkst: wer den Ideengegenstand besser kennt, produziert mehr und interessantere Ideen.

Perspektivenwechsel zur Ideenfindung

Perspektiven Wechsel (Knoll und Horton 2010)

Organisatorisch kreativer werden

Flexibilität gewinnt gegen blosse Expertise beim Generieren von Ideen. Das ist nun mal so. Wenn du also eine geile Idee für dein digitales Produkt brauchst, frag Leute, die einerseits einen frischen Blick ermöglichen und sich andererseits den Kontext zumindest vorstellen können. Pimpe nicht nur deine Methoden oder den Workshop, sondern den gesamten Ideenprozess. Mache es dir und deinem Team zur Aufgabe, selbst ideenreicher zu werden.

Stufe 1: Experten einbeziehen für die Sache, nicht den Kontext.

Warum keine Kontextexperten? Du hast in deinem Unternehmen jede Menge Kontextexperten. Vertriebler, Produktmanager usw. Sie wissen einiges darüber, wo die Nöte und Ängste von Kund:innen und Mitarbeitenden liegen, wo man schon einmal erfolgreich war und vielleicht sogar warum oder warum nicht. Sie sind eine tolle Quelle für die Auslegeordnung des Ist-Stands, die Beschreibung des Problemraums. Auch wichtig. Aber nicht ausreichend in der Ideation (=engl. Für Ideenprozess, nicht nur das Generieren ist gemeint). In der Ideation brauchst du ein interdisziplinäres Team aus Expert:innen für eine Vielfalt an Möglichkeiten (Baruah 2011). Hol dir zum Beispiel (Senior) Entwickler dazu, Trendrechercheure, Spezialisten aus anderen Branchen oder den frischen Wind der evux.

Kleiner Exkurs: wenn unser Rainer – mit langjähriger Erfahrung in der Innovationsentwicklung und viel Erfahrung beim Trends Recherchieren – die Ideen von Kunden «kartiert», nutzt er zum Beispiel einen sogenannten Future Cone. Leider landen dann die meisten Ideen im Zentrum, kaum etwas reisst aus. Mutigere Ideen brauchen Impulse von aussen, systematische Recherche und ein bisschen Verdauungszeit in unseren Köpfen und in der Organisation.

Stufe 2: Perspektivenwechsel in die Workshops einbauen

In einem Brainstorming die vielfältigen Methoden mit Perspektivenwechsel einzusetzen, reduziert möglicherweise die Quantität der Ideen, verbessert aber ihre Qualität.

Eine Zufallstechnik ist z. B. der Picture Tickler (VanGundy 2008). Der funktioniert so:

1 – Aufgabe explizit stellen, z.B. wir benötigen einen interessanten Weg unsere Energiekunden regelmässig im Kundenportal zu begrüssen («How might we»-Fragen dürfen natürlich auch verwendet werden).

2 – Ein zufälliges Bild wird präsentiert und soll als Inspiration dienen. Zum Beispiel ein Elefant. Dafür kannst du auch Hilfsmittel verwenden, wie solche, die aus grossen Bilddatenbanken immer zufällig eines für eine bestimmte Zeit anzeigen.

3 – Eigenschaften des Bildes aufschreiben. Mindestens 5. Eine Eigenschaft des Elefanten ist vermutlich der Rüssel.

4 – Nimm eine Eigenschaft und schreib auf, was dir dazu einfällt. Nehmen wir z. B. den Rüssel und wenden wir ihn auf unsere Aufgabe an, dann kommen vielleicht diese Ideen: Kundenportal braucht eine «Schnuppereigenschaft», um herauszufinden, wo der Kunde steht, Zulieferer aus Web, App, Smart Meter oder Meldungen von Anlagen wie Fotovoltaik oder Ladestation vom E-Auto…

5 – Weiterentwickeln: Alles in Punkt 4 Aufgeschriebene kann jetzt noch ausgebaut, Eigenschaften dazu definiert, Voraussetzungen oder Folgen abgeschätzt werden.

Während des Workshops muss die Anleitung der Gruppe eindeutig sein, denn sie hat einen direkten Einfluss auf die Effizienz der Ideengenerierung (VanGundy 2008). Jeder Einzelschritt muss in eine Time-Box, denn ein bisschen Zeitdruck bewirkt spontanes Herauspurzeln der Assoziationen und zersetzt auch etwas die Mauern der Vernunft. Und willst du selbst beitragen, hol dir eine externe Moderatorin.

Tipp: Kombinierst du phasenweise individuelle Vorgehensweisen mit einem Austausch der Ideen in der Gruppe, kannst du die Quantität der Ideen deutlich steigern (VanGundy 2008, Shah 2021). Denn Ideen der anderen Teilnehmer:innen stimulieren die Entstehung von weiteren Ideen (Shah 2021).

Analogie- und Provokationstechniken stellen wir einmal in einem anderen Artikel vor. Die Zufallstechnik ist aber bereits sehr ergiebig, ein bisschen schwieriger zu moderieren als ein gewöhnliches Brainstorming, aber immer noch handhabbar.

Stufe 3: Ideenprozess verwenden

Ideenprozess

Eine Idee muss sich entwickeln und mit der Generierung einer Idee (Ideation) ist es nicht getan. Wir trennen die Ideengenerierung von der Ideenbewertung, manchmal sogar örtlich (VanGundy 2008) und zeitlich. Die Entwicklung der Ideen hat viele Stufen (Horton 2006): Recherchieren, Generieren, Gruppieren, Filtern, Ausbauen, Bewerten, Priorisieren, Vorhaben schnüren, Umsetzung planen. Diese Schritte können gebündelt oder über eine längere Zeit durchlaufen werden.

Während bis zum Ausbauen gilt, alles oder zumindest Vieles ist erlaubt, gilt ab dem Bewerten: «Kill your own Darlings». Der beste Moment, Nutzer:innen und Kund:innen einzubeziehen. Der vorgängige Filter räumt Ideen anhand von Rahmenbedingungen weg, z.B. «strategisch kein Fit». Eine Idee, die den Filter überstanden hat, gehört jetzt so rasch wie möglich greifbar und erlebbar gemacht. Das Einfachste ist ein Narrativ, ein Szenariobeschrieb oder in bebildert: ein Storyboard oder ein Comic.

Das lässt sich prima testen und die beschriebene Funktionalität durch die Testenden hinsichtlich ihrer Begehrlichkeit einstufen. Wir nutzen dafür z.B. die Einstufung als Basis-, Leistungs- oder Begeisterungsmerkmal gemäss Kano-Modell (manche Funktionalitäten sind dann aber auch indifferent oder sogar ablehnend bewertet, damit muss man eben rechnen).

Ohne die darauf folgenden Schritte, die planerischer und taktischer sind, wird eine Idee ihren Weg in die Organisation nicht finden. Wir sprechen hier von der «Anschlussfähigkeit». Diese macht es auch sehr schwer für Ideen aus Design Sprints oder Design Thinking Modellen, in die Umsetzung zu gelangen. Denn häufig fehlen die Ideenträger in den Umsetzungsteams und das Know-how und der Austausch aus der Ideengenerierung und dem Ideenausbau ist für die Umsetzenden nicht mehr verfügbar.

Stufe 4: Ideenritus

Ohne Menschen konsequent in die aufwändig aufgesetzten Workshops zu bringen und die ungeübten Personen mit sanftem Nachdruck dazu zu bringen, Ideen auszuspucken, kann jeder von uns mit einer kleinen Routine den eigenen Ideenreichtum verbessern, schärfen und ausbauen. Unser Kopf arbeitet unermüdlich daran, zu überlegen was ich über etwas denke. Und er baut Assoziationen auf zu völlig abwegigen Themen, aus denen wir Inspiration schöpfen.

Wir können diesem freien «Pfeifen im Kopf» einen Platz durch kleine Methoden geben. Dafür brauchen wir weder Zeit von jemand anderem noch viel Zeit von uns. Und es fühlt sich zum Teil sogar therapeutisch an, weil es endlich mal raus und klar ist. Meine Empfehlung dafür ist zum Beispiel das «Schreibdenken» (Scheuermann 2016). Du brauchst 15 Minuten, ein Notizheft oder -block und einen Stift. Mehr nicht. Das geht so:

1 – Schreib als Überschrift eine Frage oder ein Thema auf das Blatt Papier, um das es gehen soll

2 – Schreib 5 Minuten lang alles auf, was dir dazu in den Sinn kommt. Nicht aufhören, bis der Wecker klingelt. Und wenn dir nichts einfällt, schreib die Worte «Wie weiter» oder «Was noch» bis dir ein Gedanke kommt. Das läuft schon. Einfach machen.

3 – Nimm dir einen Leuchtstift und unterstreiche Kernphrasen oder wichtige Stichwörter in deinem Erguss

4 – Formuliere aus dem Angestrichenen eine neue Überschrift.

Jetzt kannst du das Ganze noch einmal machen oder wartest bis zum nächsten Tag. Es verschafft dir ein Ideen- und Über-meine-Gedanken-klar-werden-Ritual, das du überall zu jeder Zeit einsetzen kannst. Das Ergebnis gehört dir allein, niemand muss dazu Zugang erhalten. Und das beste dabei ist das Staunen über sich selbst. Kommen dir trotzdem die Gedanken zu flach oder offensichtlich vor, kannst du dir selbst noch weiterhelfen, indem du mit Absicht solche Sachen in deine nächste Überschrift einflechtest wie «Was gibt es über … hinaus auf diesem Gebiet zu sagen?»

Hast du sowas schon mal ausprobiert? Bist du auch so begeistert und wird es zu deiner neuen Routine?

Referenzen:

Baruah, Jonali, and Paul B. Paulus. „Category assignment and relatedness in the group ideation process.“ Journal of Experimental Social Psychology 47.6 (2011): 1070-1077.

Briggs, Robert O., et al. „Quality as a function of quantity in electronic brainstorming.“ Proceedings of the thirtieth Hawaii international conference on System sciences. Vol. 2. IEEE, 1997.

Horton, Graham. „Idea engineering: Teaching students how to generate ideas.“ Proceedings of 9th International Conference on Engineering Education, San Juan, Puerto Rico. 2006.

Knoll, Stefan Werner, and Graham Horton. „Changing the perspective: improving generate thinkLets for ideation.“ 2010 43rd Hawaii International Conference on System Sciences. IEEE, 2010.

Scheuermann, Ulrike. Schreibdenken: Schreiben als Denk-und Lernwerkzeug nutzen und vermitteln. Vol. 3687. UTB, 2016.

Shah, Jami J. „Experimental investigation of progressive idea generation techniques in engineering design.“ International Design Engineering Technical Conferences and Computers and Information in Engineering Conference. Vol. 80333. American Society of Mechanical Engineers, 1998.

VanGundy, Arthur B. 101 activities for teaching creativity and problem solving. John Wiley & Sons, 2008.

Haben Sie Fragen zum Artikel?