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Empathie lernen

Hat in deinem Unternehmen schon einmal ein Nutzertest stattgefunden, aus dem resultierte, dass eigentlich alles ok ist? Das dürfte ein Indiz dafür sein, dass man mehr hätte herausholen können. Ein wichtiger Teil ist die Fähigkeit, sich ehrlich für das Erleben der Nutzer zu interessieren, also empathisch zu sein. Diese Fähigkeit ist einigen Menschen angeboren, einige verlieren sie zum Teil durch ihren sachlichen Arbeitskontext und andere bleiben auf einem weniger ergiebigen Niveau, weil die Fähigkeit nicht trainiert wird.

Empathie ist aber kein esoterisches Gebrabbel, sondern eine Mischung aus Einstellung, Zuhör- und Fragetechnik sowie Beobachtung und Analysefähigkeit, die geübt werden kann. Ziel dabei ist es, die Zonen des Nutzerproblems zu erreichen, die dem Nutzer selbst nicht direkt in Sprache ausdrückbar zur Verfügung stehen. Das, was Nutzende direkt sagen können, ist so offensichtlich für sie, dass dies hier kaum diskutiert werden muss. Was ihnen ein latentes Unbehagen bereitet, können sie aber vielleicht noch nicht direkt benennen. Und normalerweise scheut sich ein Mensch erstmal, über diese latenten Themen zu sprechen, weil es peinlich sein könnte. (Mindestens in unserer Kultur.)

Empathie beginnt mit der Einstellung

Ein Testmoderator sollte sich jeweils fragen, ob er sich wirklich für die Bedürfnisse des Nutzers interessiert oder ob nicht andere Interessen seine Wahrnehmung vernebeln. «Wir sind doch eh schon zu spät.» «Jemand erwartet von mir, dass ich nichts ändere», «Den Test machen wir doch nur, weil wir müssen.», – das ist die eine Seite der Bedenken, die andere: «Hey, aber nach dem Test müssen wir echt Bescheid wissen.», «Ein bisschen Usability können wir vielleicht schon, aber eigentlich liegt das Problem woanders.», «Seit dem letzten Test haben wir viel zu wenig geändert.» Diese Gedanken müssen wir wegschieben, jetzt geht es um den Nutzer just in der Nutzungssituation.

Wie geht es ihm, ist er neugierig, euphorisch, oder nur auf die Testentschädigung aus? Mir hilft es, kurz die Menschen anzuschauen und mich zu fragen, ob sie wohl stark reagieren oder Reaktionen eher schwieriger von Neutralität zu unterscheiden sein werden. Dann stelle ich mich entsprechend ein. Bereits mit wenigen Eingangsfragen kann ich abschätzen, ob Testnutzer keine Zeit verlieren wollen und schnell zum Ziel gelangen möchten. Oder sind sie mitteilsamer und suchen den Austausch? Je nachdem werden zum Beispiel mehr oder weniger von den «Probes» zum Einsatz kommen. Oder ich kann mehr oder weniger Zeit für das Antworten oder die Formulierung der Gedanken beim «Think aloud» gewähren.

Empathie heisst auch, die Zuhör-und Fragetechnik anzupassen

Wir betreten im Nutzertest metaphorisch gesehen einen dunklen Raum und sehen gerade bis zur Nasenspitze. Die Zuhör- und Fragetechnik ist unsere Taschenlampe. Je mehr Erfahrung und Know-how wir mitbringen, desto heller leuchtet sie und desto mehr vom Raum werden wir erkunden können. Aktives Zuhören heisst nicht (nur), selbst still zu sein. Es heisst eine Aussage des Gegenübers zu erkunden, indem Nachfragen gestellt werden. In der Vorbereitung von Nutzertests (übrigens auch bei anderen Befragungen) ist daher der Entscheid für einen Befragungstyp – in unserem Fall in der Regel «halbstrukturiertes Interview» – und darauf basierend der Interviewleitfaden mit Fragen und Vertiefungsfragen (engl.: Probes) vorzubereiten. Die Vertiefungsfragen nehmen vorweg, in welche Richtung ein Gespräch führen kann und stellen sicher, dass alle wesentlich interessierenden Aspekte auch wirklich tangiert werden.

Ein eher kontraintuitives Verhalten ist die Reaktion auf Fragen der Nutzer. Neulinge bei Tests (oder solche, die zu ihrem Verhalten zu wenig Feedback erhalten haben) werden hier in die Falle laufen: Fragt ein Nutzer, was denn passiert, wenn «diese Funktion» ausgeführt wird, sollte nicht vom Testleiter das System erklärt werden. Wir sollten dann eher die Chance nutzen, mehr über die Erwartungen des Nutzers zu erfahren. Auch natürlich das suggestive Befragen à la «Gell, das stört Sie?» bringt eher weniger verwertbare Ergebnisse.

Empathie ist auch Beobachtung

Die qualitativ-orientierte Beobachtung (Atteslander 2008, S. 71f.) hat etwas Subjektives. Um Beobachtungserkenntnisse vor der Subjektivität eines einzelnen Beobachters zu schützen, können Massnahmen wie das Vier-Augen-Prinzip (Two-Men-Rule), Peer Reviews der Interpretationen oder Konkatenation (Stebbins 2006) von kontextgleichen Beobachtungen zu unterschiedlichen Zeitpunkten und/oder unterschiedlicher Beobachter angewendet werden.

So wird sichergestellt, dass der Eindruck nicht subjektiv, zufällig und einmalig ist. Die Beobachtungserkenntnis wird mindestens intersubjektiv, regelmässig und typisch für den Beobachtungsgegenstand. (Schmidt-Rauch 2013) Das Vier-Augen-Prinzip gehört für uns bei evux zum Standard einer Beobachtung im Nutzertest. Vor allem für die Zwischentöne, die der Moderator, weil er sich auf Gesprochenes und Aktionen auf dem Bildschirm konzentriert, möglicherweise übersieht, sollte eine zweite Person anwesend sein.

Ein Achselzucken, nervöses Hin- und Hergucken von einem Element auf dem Bildschirm zum anderen – Verwirrung hat viele Gesichter. Zudem können die beiden Personen ihre Eindrücke austauschen und kontroverse Beobachtungen diskutieren, was die Güte von Ergebnissen steigert, eben intersubjektiv macht.

Auch nach der Befragung oder dem Test braucht es Empathie

Empathie hört nicht auf, nur weil der Test vorbei ist. Zur Empathiefähigkeit gehören harte Analyse-Skills! Und dazu gehören das Wissen und Bewusstsein um psychologische, verhaltensökonomische und soziale Effekte, aber auch die Erfahrung, wie sich Nutzungsprobleme zeigen und lösen lassen. Systematisch betrachtet müssen die in Protokollen erhobenen Daten gemäss der qualitativen Inhaltsanalyse (siehe auch White & Marsh 2006 oder dieser Artikel von NN/g) ausgewertet werden.

Gute Protokolle zeichnen sich dadurch aus, dass sie nicht interpretieren oder zumindest Interpretation von Beschreibung unterscheidbar machen. Grundsätzlich sollten die Analytiker:innen in drei Schritten vorgehen, in denen erfahrene Testmoderatoren eine effiziente Routine entwickeln: (a) Analysieren der Einzelprotokolle (Feldnotizen), (b) Analysieren der Querverbindungen aller Einzelprotokolle und (c) Analysieren und Vergleichen der Einzelprotokolle. (Schmidt-Rauch 2013) Wie bei der Beobachtung ist ein Review der Analyseergebnisse durch eine weitere Person essenziell für die Ergebnisgüte. Bei eher unerfahrenen Testenden/Beobachtenden hilft es, einen unbeteiligten Reviewer mit entsprechender Testseniorität die Ergebnisse sichten zu lassen. Er oder sie wird die richtigen Fragen stellen, um Beobachtungen und Analysen adäquat zu hinterfragen. Wir praktizieren hier sogenannte Test- oder Beobachtungsdebriefings.

Die Systematik eines fundierten Tests ist anspruchsvoll und neben der Empathie folgen Themen wie die Kommunizierbarkeit der Erkenntnisse, die Erklärung der Validität auf managementgerechte Weise und ein konsequenter Widerstand gegen die kommerziell-motivierte Reduktion der Güteaspekte. Das Resümee muss meines Erachtens sein: Nein, nicht jeder sollte direkt «scharfe» Nutzertests machen. Erfahrene User Researcherinnen müssen einige Zeit zur Hand sein, bevor Neulinge die Ebenen der Empathie verinnerlicht haben.

Weitere helfende Massnahmen:

  • Erfahrene Experience Consultants von evux holen
  • Zusätzliche Erkenntnisebenen oder Interpretationshilfen schaffen durch zum Beispiel den Einsatz eines UX-/Usability-Fragebogens
  • Selbst reflektieren und akzeptieren, dass manchmal der Zacken doch aus der Krone bricht und man noch mal justieren muss
  • Üben, üben, üben – vor den scharfen Tests mit den bestellten Teilnehmenden Testdurchläufe durchführen
  • Gegenseitiges Feedback der Moderator:innen und Protokollierenden

Quellen des Artikels:

  • Atteslander, P. (2008). Methoden der empirischen Sozialforschung, 12. Aufl., Erich Schmidt Verlag, Berlin.
  • Schmidt-Rauch, S. (2013). Value Co-Creation im Reisebüro der Zukunft. Dissertation. Universität Zürich.
  • Stebbins, R. A. (2006). Concatenated Exploration: Aiding Theoretic Memory by Planning Well for the Future. Journal of Contemporary Ethnography, 35, 5, pp. 483494.
  • White, M. D. & Marsh, E. E. (2006). Content Analysis: A Flexible Methodology. Librarytrends, 55 (1), S. 22-45.

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