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Idee da, Lösung nicht – ist das testbar?

Ja, das ist testbar. Das war die kurze Antwort.

Die lange Antwort fängt mit Alberto an. Er findet, dass Innovationen früher, schneller und konsequenter validiert werden müssen und zwar so schnell, dass es nicht weh tut, etwas wegzuwerfen. Vielleicht kann das sogar passieren, ohne so richtig was wegzuwerfen? Er findet immer mehr Freunde, und zwar bei Google. Sie bleiben dabei: die meisten neuen Produkte werden scheitern – selbst wenn sie einwandfrei umgesetzt werden. Und irgendwann erscheint das erste Mal das Wort Pretotyping als geschriebenes Wort. Das war 2009.

Im 2022 tauschen sich hierzulande grosse Schlagwörter gegenseitig im Wettrennen ab: Customer Experience, menschzentrierte Vorgehensweisen, agile movement, digitale Transformation, Innovationsnot, User Experience, das «Zeitalter des Kunden» ist angebrochen… und? Fast jede Idee wird umgesetzt oder mindestens gefühlt zu lange daran festgehalten. Das kann nicht richtig sein.

Ist es auch nicht. Unternehmen müssen an ihrer Experimentierfähigkeit schaffen und dazu gehört auch das systematische Verwerfen von Ideen. Wir müssen wegkommen von Methoden, die unsere Ideen nicht ausreichend schnell an die Wand fahren, hin zu Agil-Verträglichen, die es erlauben, statistisch relevante Aussagen über die Wünschbarkeit von Ideen zu machen.

Vor ein paar Jahren durften wir bei evux einen Nutzertest auf einer neuen App-Idee durchführen. Während der Zusammenarbeit konnten wir evaluieren, dass bereits einige Innovationstore (innovation gate, quality of innovation gate) passiert wurden. Solche Gates werden eigentlich dafür definiert, dass Unternehmen ihre Investitionen in Ideen im Griff behalten können.

Spannend waren die Resultate des Tests. Die Nutzenden zeigten eine rechte Erschöpfung und Überforderung, obwohl die Interaktion kaum Schwierigkeiten aufzeigte. Unsere Interpretation der Aussagen der Nutzenden war klar: keine der Testpersonen fand den Inhalt spannend oder nützlich. Für uns gab es auch eine klare Empfehlung: hinterfragt die Nutzenart, die ihr mit der Idee an die Endnutzer spielen wollt, euer Problem ist nicht das «Wie», euer Problem ist das «Was». Jetzt hatten wir aber zur Untermauerung unserer Aussage lediglich die qualitativen Daten der 6 Personen aus dem Nutzertest. Und da die Idee bereits in einer höheren Stufe im Innovationsprozess stand, waren die Ohren der Entscheider auf Erfolg getrimmt.

Für uns ein frustrierendes Erlebnis. Wir waren überzeugt, dass die Ausgestaltung der Produktidee in dieser Form wenig Hoffnung auf Erfolg gibt, aber wir waren einerseits zu spät mit der Erkenntnis, andererseits mit der falschen Methode unterwegs. Wir konnten mit dem Nutzertest nicht die nötige Evidenz schaffen und das ist auch richtig so. Das kann ein Nutzertest auch nicht leisten. Unsere Irrtumswahrscheinlichkeit war sicher genauso hoch wie die des Auftraggebers.

Was hier methodisch gefragt war, war nicht das Prüfen der Interaktionsgestaltung, sondern der gesamten Produktidee. Und das war deshalb gefragt, weil das vorher noch niemand gemacht hat. Das Innovationstor, das das Produkt durchschritten hatte, schrieb jetzt vor, einen Nutzertest zu machen. Vorher im Prozess gab es keine Stelle für ein systematisches Verwerfen der Idee. Traurig, aber wahr.

 

Wünschbarkeit, Machbarkeit, Wirtschaftlichkeit

Wenn wir Ideen und Innovationen entwickeln, konzentrieren wir uns doch sehr auf die Ideation. Und selbst dort nutzen wir das volle Potenzial von Perspektivwechsel und der Infusion geeigneter Seeds nicht aus. (Dafür kannst du noch einmal im letzten Blogartikel schauen: Mehr bessere Ideen im Unternehmen)

Aber zu jedem neuen Produkt, z.B. ein speziell geschnürter Fond, eine App, ein Shop, eine neue Beratungsleistung, eine IT-Plattform, egal was, gehört auch immer die Untersuchung, ob das jemand will, ob wir das umsetzen können und ob sich das rechnet. Nachfolgend kann ich noch fragen, wie viele wollen das und wer genau, wie können wir das umsetzen und wie rechnet es sich am besten.

In unserem Beispiel oben fehlte die Grundlage der Wünschbarkeit und dieser sollten wir uns stets zuerst widmen. Wozu sollte ich auch etwas Machbares bauen, das niemand will, denn es wird dann auch nicht wirtschaftlich sein. Eine Methode dafür ist das Pretotyping. Also schauen wir da einmal tiefer rein.

grafik pretotyping verglichen mit prototyping

Grafik angelehnt an t2informatik.de und pretotyping.org

 

Was ist Pretotyping?

Pretotyping ist das Testen der ersten Attraktivität und der tatsächlichen Nutzung eines potenziellen neuen Produkts durch die Simulation seines Haupterlebnisses mit dem geringstmöglichen Aufwand an Zeit und Geld.

Puh. Das ist wieder eine Definition. Machen wir es ein bisschen anschaulicher:  Ein Pretotype gibt vor (= pretend, daher das «Pre» in «Pretotyping»), dass eine Dienstleistung oder ein Produkt bereits (vollständig) verfügbar ist. Es ist der beste Sinn für «Fake it before you make it». Der Anspruch an den Pretotype ist also auch, dass ein potenzieller Kunde ihn erfassen und verstehen kann.

Alberto Savoia (2011) unterscheidet folgende Formen des Pretotypings:

  • Mechanical Turk – komplexe und teure Computer oder Maschinen werden durch Menschen ersetzt
  • Pinocchio – eine leblose Version des Produkts
  • Minimum Viable Product (oder Stripped Tease) – funktionale Version des Produkts, die jedoch auf ihre grundlegendsten Funktionen reduziert ist
  • Provincial – vor der weltweiten Einführung zunächst ein lokaler Test
  • Fake Door – Anpreisen eines Produkts, ohne dass es existiert
  • Pretend-to-Own – Standardprodukte zuerst ausleihen oder mieten, bevor man sie beschafft
  • Re-Label – Ein bestehendes Produkt nehmen und mit einem neuen Etikett versehen, das einen Ausblick auf die eigene Vision gibt

Leider sind wir an diesem Punkt wieder bei der Neubenennung bereits bekannter Dinge angekommen. Der Mechanical Turk dürfte auch als Wizard-of-Oz-Test bekannt sein, genauso wie Pinocchio als Mockup oder der Provincial als Pilot. Beim MVP lässt sich zudem die Wünschbarkeit nur mit Einschränkung testen, weil das Erfassen des Gesamtprodukts nicht möglich ist.

Wir möchten euch deshalb folgende frühe Wünschbarkeitstests ans Herz legen:

  • Die Fake Door: das grundsätzliche Interesse von Kundinnen und Kunden wird geprüft. Wir können je nach Wissensstand über die Produktidee die Produktmerkmale, Preiselastizität und Kosten pro Lead bestimmen. Dafür hat evux eine Dienstleistung aufgebaut.
  • Die Pilotierung von Tools und Produkten in einem eingeschränkten und deshalb überwachbaren Nutzerkreis mit der entsprechenden Infrastruktur, um die Nutzenden zu unterstützen. Der Pilot läuft parallel zum alten System. Das täte auch einigen mobilen Bankenapps gut, die in der letzten Zeit so auf den Markt kommen. Während der Pilotierung müssen auch Anpassungsressourcen zur Verfügung stehen, um auf geänderte Anforderungen zu reagieren. evux durfte eine solche Pilotierung für die Zürcher Kantonalbank konzipieren und begleiten.
  • Das Re-Labelling ist für das Ausprobieren von Geschäftsmodellen eine gute Wahl. Aber auch hier benötigt es eine gute Auffanginfrastruktur für die Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer nach dem Prinzip der Pilotierung.

Mit weitem Abstand am frühesten im Prozess lässt sich die Fake Door einsetzen. Hierfür passt der Aufwand in zwei Wochen, die Durchlaufzeit in vier. Das ist hilfreich für agile Organisationen.

 

Was unterscheidet einen Pretotype von einem Nutzertest mit einem Prototyp?

Wenn wir einen Fake-Door-Pretotype ins Rennen schicken, werfen wir eine Produkt- oder Serviceidee auf den Markt und schauen, wie er angenommen wird und was die Menschen zu zahlen bereit sind. Wir versuchen herauszufinden, ob wir die Idee im gesamten verwerfen können. Testen wir hingegen einen Prototyp in einem Nutzertest finden wir für die Frage, ob wir das richtige Produkt bauen keine Antworten mehr. Vielleicht noch Indikatoren. Aber Antworten sicher nicht. Ein Nutzertest ist darauf ausgelegt, Mängel im Konzept aufzufinden, also Verbesserungspotenziale für das Produkt.

Wir können sagen:

  • Build the right it: Fake-Door-Pretotype
  • Build it right: Prototyp

 

Was ist der Unterschied zum MVP?

Anders als Alberto Savoia sehen wir den MVP nicht als sinnvolle Testform für die Wünschbarkeit. Das liegt sowohl an der Definition als auch an der Handhabung in der Praxis. Per Definition ist ein MVP der kleinstmögliche Funktionsausschnitt, ein Produktinkrement, das ich nutzen kann, um Kunden- und Nutzerfeedback zu erhalten. Das ist funktional. Sobald das der Fall ist und das gesamte Produkt nicht erlebbar, erhalten wir eher Feedback auf die Art und Weise der Umsetzung und weniger auf die Idee. In der Praxis werden MVPs, die tatsächlich mal einen Kunden zu Gesicht kriegen, aber häufig sehr gross gebaut. Es sind also keine kleinen, schnell testbaren Produktteile, sondern eigentlich Beta-Versionen. Das entspricht dem «so kostengünstig wie möglich» überhaupt nicht. Und wer will dann noch hören, dass er alles wegwerfen kann?

Wir konnten bisher keinen sinnvollen Weg miterleben, wie tatsächlich mal programmierte Produktteile verworfen wurden. Gebaut ist gebaut. Davor müssen wir uns schützen. Wir müssen wegwerfen können, das geht leichter und billiger, wenn noch keine Software gebaut wurde.

Deshalb haben wir als Angebot einmal folgende Unterscheidung:

  • Build the right it: Fake-Door-Pretotype
  • Build it right: Prototyp mit iterativen Nutzertests
  • Can we built it: MVP (oder zusätzlich Durchstich oder proof-of-concept/PoC)

 

Wie genau macht evux Fake-Door-Pretotypes?

Um die Fake-Door-Landingpage legen wir ein Experimentaldesign, womit wir unterschiedliche Fragen an Produktmerkmale oder z.B. auch das Pricing stellen können.

Vorbereitung

Wir erarbeiten zuerst die für den wirkungsvollen Fake notwendigen Informationen wie die Produktmerkmale, vielleicht gibt es Pakete mit unterschiedlichen Preisen. Wir wenden verhaltensökonomisches Know-how auf die Gestaltung an. Wir nutzen diese Informationen, um eine Landingpage zu entwerfen, auf der das Produkt angepriesen wird. Dafür wird ein Standarddesign verwendet, das sich bewährt hat. Die Bildsprache, das Wording, die Wertekommunikation und die Preise können dann in bis zu drei Varianten erstellt werden. In der Vorbereitung entscheiden wir auch, ob wir die Marke des betreibenden Unternehmens zeigen oder nicht.

Durchführung

Die Landingpage wird bspw. über eine Facebook-Kampagne oder ein Kundenmailing an die Zielgruppe gebracht. Dort werden die Varianten zwei bis vier Wochen «Feldzeit» erleben. Wir messen in dieser Zeit das Verhalten mit der Landingpage von der Kampagne bis zur Vorbestellung.

Idealerweise kombinieren wir die Durchführung mit einer qualitativen Nacherhebung. So finden wir neben dem Verhalten auch die Treiber des entsprechenden Verhaltens heraus und wissen besser, in welche Richtung sich das Produkt verändern müsste.

Auswertung

In der Auswertung ist einerseits die Einzelanalyse jeder Variante interessant, aber auch der Variantenvergleich. Wenn wir beispielweise eine App anpreisen, die einmal 1 CHF kostet, in der zweiten Variante 2 CHF und in der dritten 3 CHF und die dritte Variante weist die beste Conversion auf, haben wir den Sweet Spot für den Preis womöglich noch nicht gefunden. 😊

 

Empirisch werden – so schnell wie möglich

Ab ins Feld, raus in die Welt. Keinen Bestandsschutz für Ideen. Wir müssen mehr verwerfen und dafür braucht es Artefakte, die wir uns trauen, wegzuwerfen. Eine Fake-Door ist leicht erstellt und leicht wieder abgestellt. Fangen wir mal damit an. Es tut auch gar nicht so weh, wenn man davon sukzessive immer mehr macht. So baut sich ein Unternehmen seine Experimentierbarkeit auf. Dürfen wir helfen? Meld dich!

 

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